Mit dem „Marijan-Express“ durch die Lika nach Split


Nein, an diesen Jugendlichen kann es nicht gelegen haben. Sie hatten alles versucht.
Aber es war wie verhext, in dieser Nacht ließ sich keine Unterkunft finden in Ogulin, einer Kleinstadt mit knapp zehntausend Einwohnern. Man führte mich zum teuersten Restaurant, wo es gerade heute kein Essen gab, zeigte mir dafür von einer altersschwachen Holzbrücke aus die Schlucht der Mreznica, die beide, auf löchrigem Karst erbauten Stadtteile, trennte. In kleinen Kaskaden stürzte sich der Fluß in die Klamm, brauner Schaum bildete sich.
„Die Leute lassen sorglos alle Abfälle im Fluß verschwinden“, erklärte Mirko mit seiner Stirnlocke und Jadranko grinste über beide Ohren, während Zeljko mit ernstem Gesicht danebenstand, um die braunen Stummel seiner Vorderzähne nicht preiszugeben.
Dies also war der Oberlauf der unvergeßlichen Flußauen, an denen sich der Zug im Schrittempo auf neuem Schotterbett und knirschenden Schienen die Karsthöhen hinaufwand. Friedlich war die Stimmung, tief stehende Abendsonne durchleuchtete die Landschaft, Menschen waren in ihren Gärten emsig beschäftigt.
“Hoho, das war eine Granate“  lacht Mirko, als wir über eine ausbetonierte Stelle im Gehsteig stolpern, “zweihundert davon hatten sie auf die Stadt abgeschossen. Damals fiel für ein paar Tage die Schule aus, als der Krieg so nahe war.“
Den Löchern auf der Straße ausweichend zogen wir weiter durch die abendliche Geschäftigkeit der Stadt. Die letzten Einkäufe wurden erledigt, Autos repariert und ein Schwätzchen vor den Haustüren gehalten.
Aber keiner der Eltern wußte eine Lösung für meine Unterbringung und, wie zum Beweis, führten mich die Jungen am stattlichen Gebäude des ehemaligen Hotels vorbei, das man vor vier oder fünf Jahren aufgab und verfallen ließ. Wie ein großes altes Gutshaus lag es breit und behäbig an einer staubigen Kreuzung, die Fensterscheiben waren schon demoliert.
Dabei war Ogulin doch nicht das Ende der Welt. Die Hauptstraßen und -bahnen berührten den Ort. An der Strecke Zagreb - Rijeka gelegen, glänzte es nicht mit Sehenswürdigkeiten. Fremde schienen sich nicht hierher zu verirren. Und weder die unzähligen Güter- noch Schnellzüge änderten etwas daran.
Und später kam dann diese endlose Nacht auf den Bänken des Wartesaals im Bahnhof und es war ein Glück, daß ich nicht allein dort lag, denn die beiden anderen vermummten, schlafenden Gestalten nahmen mir das Gefühl vollkommener Verlassenheit. Irgendwann gegen Morgen strömten so viele Leute zu den Zügen, daß an Schlaf nicht mehr zu denken war. Die Stimmen wurden eindringlicher und ein Besen fegte um mich herum. Ein Blick vor die Tür zeigte mir das Bahnhofsbuffet voller Kaffeetrinker und schon fuhr der endlos lange Zug aus Zagreb ein, der hier in Ogulin getrennt wurde. Ich bestieg den hinteren Teil nach Split und freute mich auf ein Frühstück im Speisewagen.
Aber das wurde beinahe nebensächlich gegenüber den Erlebnissen an der Strecke.                
Der Zug wurde mit zwei dunkelgrünen, schweren amerikanischen Dieselloks bespannt und - auf jetzt eingleisiger Strecke - brummten sie derart über die Karsthöhen, daß die blaugrau gestrichenen Waggons nicht anders konnten, als ächzend und knarrend hinterher zu stolpern. Und alles schien so, wie es immer sonst war. Ich schlenderte in den Speisewagen, bekam vom überaus freundlichen Ober ein Dosengulasch samt Salat mit der Miene des Oberkellners vom „Riz“ serviert. Der Koch setzte sich dazu und auch die drei Polizisten, die den Zug begleiteten, gönnten sich eine Pause und sahen bei einer Limonade im Speisewagen nach dem Rechten.

die drei Polizisten, die den Zug ~ und sahen bei einer Limonade im Speisewageri nach dem Rechten.

Mit gefülltem Magen und mehreren Gläsern Tee lehnte ich mich zurück und betrachtete die Landschaft eingehender. Wie wurde Ante Kovac über diesen Teil Kroatiens im Reiseführer von Doré Ogrizek, Jugoslawien, (München 1955) zitiert:

"Von der Adria durch den gewaltigen Bergrücken des Velebit ge­trennt, erstreckt sich die Lika von der Stadt Ogulin bis zu den Grenzen von Knin. Ihre Hauptstadt Gospic zählt kaum 5000 Einwohner. Es ist ein karstiges, von „polje“ - jenen abgeschnittenen    Becken inmitten des Gebirges - durchzogenes Gebiet und gehört mit zu den abgelegensten und unberührtesten Gegenden Jugoslawiens. Als Zentrum des Königreichs Kroatien im Mittelalter, dann als Grenzprovinz unter Öesterrejch im 16. und 17. Jahrhundert, wo der Fluß Lika die Grenze des türkischen Reiches bildete, ist dieses Land zäh ver­teidigt worden von seinen Bewohnern, die sich zu militärischen Verbänden unter dem Namen „granicari“ zusammenschlossen.
Die Natur ist wild, ungehemmt und schön. Der Sommer verbrennt die sonnigen Hänge, der Winter begräbt sie unterm Schnee. Es gibt Wälder hier, in denen nie ein Baum gefällt worden ist. Große Bären zertrampeln das Gebüsch, Rudel von Wölfen und Wildschweinen streifen umher. Im Frühling sammeln sich die Hirten mit Ihren Herden, um nach den Almen des Velebit aufzubrechen, von denen das Echo ihrer langgezogenen Sammelrufe widerhallt. Wenn sie einen Wolf getötet hatten, stopften sie ihn aus und führen ihn nach ihrer Rückkehr ins Dorf von Haus zu Haus und singen — während sie von den Bauern kleine Geschenke erhalten — einen Refrain, der an das Heulen ihres alten Feindes erinnert."  

Lange hielt die eindringliche Schilderung Ante Kovacs meine Gedanken fest, die in archaische Zeiten eintauchten. Inzwischen hatten wir den Jezero Begovac-See umfahren, der zwischen erstem Grün in makellosem Blau, unberührt wie aus der Urzeit dalag, als die eigenartige Stille sich zum gefrorenen Moment gespenstischer Leblosigkeit verdichtete: Seltsam leere Gehöfte in blühenden Obstgärten, die Rolläden halb heruntergelassen, ein verkohltes Wohnhaus mit geschwärzten Fensteröffnungen, dann noch eines, umringt von verstreuten, ausgebrannten Fahrzeugen in scheckigem Rostbraun.  Wo befanden wir uns eigentlich?

Nach der Karte fuhren wir nahe am Naturpark Plitwitzer Seen entlang, wo es die ersten Kämpfe in dieser Gegend gegeben hatte – nur 30 km an Bihac vorbei, durch das vor dem Bruderkrieg die Parallelstrecke zur Adria verlief.

Von der Landschaft im Frühlingsgrün ging es nun hinauf in spätwinterlich-braungraue Laubwälder, die dicht an die Bahnstrecke heranreichten, durchzogen von Schneeresten. Durch etliche Tunnels und über Brücken, dann öffnete sich der Blick auf das nächste Polje, das sich in diesigem Licht tief unterhalb der Bahnlinie entfaltete.

Sechs von diesen Wannen oder Kesseltälern mit unterirdischer Entwässerung im Kalkgebirge des Karstes, berührten wir auf unserer Fahrt zur dalmatinischen Küste  - grüne Inseln inmitten unwirtlicher, hoher Gebirgszüge.

Immer öfter durchfahren wir Bahnhöfe mit Schuß- oder Brandspuren, teilweise sind sie sogar völlig zerstört. Der Zugverkehr wird von graublauen Containern aus abgewickelt. Bahnhofschilder stehen provisorisch am Boden, aber zumindest ein Fähnchen mit Rautenmuster ist aufgesteckt und korrespondiert zum Rot der Mütze des Fahrdienstleiters. Ein kurzes Gespräch zwischen Zugführer, Schaffner, Fahrdienstleiter und der Zug rollt unter dem Urgeheul der Dieselloks weiter. Aufmerksam verfolgt man die immer schneller vorbeifliegenden Ansiedlungen, bis die Weite der Landschaft alles verschluckt. Mit niedergeschlagenem Ausdruck, stumm stehen die Passagiere oft in Gruppen am Fenster, meist einfach gekleidete Leute, Tränen in den Augen. Es kommt kein Triumph auf.

Tschetniks hatten sich in den einsamen Wäldern auch entlang der Bahnstrecke eingegraben,
konnten dann aber aufgrund der tiefen Temperaturen nicht länger überwintern und zogen sich zurück. Andere wurden mit Hundestaffeln aufgespürt, erzählt mir der Koch des Speisewagens in fließendem Englisch. Eigentlich langweile ihn diese Strecke, aber mit dem Sommerfahrplan wird er den Speisewagen Zagreb - Berlin übernehmen, dies sei endlich eine Abwechslung für ihn. Von den bosnischen Gebieten würde er mir abraten, nur in den kroatisch - bosnischen sei es derzeit für einen Fremden sicher.

Ins Abteil zurückgekehrt überrascht mich Musik. Nebenan haben Reisende ihre Instrumente ausgepackt und musizieren, daß es eine Freude ist. Zwei Fiedeln, Gitarre und Kontrabaß füllen den ganzen Waggon mit Musik. Man sammelt sich auf dem Gang vor dem Abteil, hört zu, kommentiert. Die Musiker gönnen sich keine Pause.
Zunehmend unbestellte Felder, wilde Müllhaufen um Gehöfte und im Gelände fallen ins Auge. Wir passieren Gospic mit seiner markanten Ruine des Wasserbehälters am Bahnhof, dann verläuft die Strecke im wesentlichen schnurgerade durch das Licko Polje. Verlassene Erdbunker tauchen links und rechts auf, Telegraphendrähte hängen von den Isolatoren, aufgebockte räderlose Autos stehen vereinzelt herum. Bei Ricice schieben sich die zerschossenen, verlassenen Orte an die Bahnlinie heran, wo nur noch die Fassaden der Häuser weiß aus den noch unbelaubten Bäumen schimmern.    
Nur hier und da ein benutzter Wohnwagen mit Tieren davor, neben dem zerschossenen Gebäude - als Spur neuen Lebens. Aber das ist die Ausnahme. Fast eine halbe Stunde Aufenthalt in Gracac, wo sich die beiden Züge auf der Strecke Split - Zagreb treffen. Nur wenige Menschen steigen an diesen Stationen aus, der Großteil fährt bis Knin oder Split. Auf dem Nebengleis wartet ein Güterzug. Die Vibrationen der drei Diesellokmotoren gehen durch Mark und Bein. Und das ist nur der Leerlauf - auch bei längeren Halten werden die Motoren nicht abgestellt. Die Lokführer verschwinden im Bahnhofsgebäude, gönnen sich eine kurze Pause außerhalb ihrer engen, ungemütlich heißen Führerstände.

Nach Gracac, bei der Überquerung der nächsten Gebirgskette, gleiten entvölkerte Gebiete am Fenster vorbei, wie Bilder aus einem Albtraum. Kein Halt mehr an den verwaisten Bahnhöfen im Niemandsland, der Zug prescht durch bis Knin. Dazu spielt inzwischen die Musikgruppe im Speisewagen auf, was die bizarre Szenerie noch vergrößert. Langsam finden sich hier auch die Zugbegleiter ein, nach den meisten Volksliedern gibt es Applaus. Die unzähligen Becher spendierten Weines beflügeln die Musiker in ihrer Virtuosität, und als wir in Knin eine halbe Stunde Aufenthalt haben, sind sie die ersten, die auf dem Bahnsteig stehen und für eine ausgelassene Stimmung sorgen. Bahnhofspersonal, Zugpolizisten, Reisende und Gäste des Bahnhofsrestaurants scharen sich um die Musiker, während die Mittagssonne steil darüber steht, Schweißperlen den Musikern die Stirn herunterrollen und auf den Boden tropfen.

Aufräumarbeiten um den Bahnhof, Blütenduft in der lauen Mittagsluft. Vor Knin die ersten bewohnten Häuser mit der Nationalflagge, einige tragen nationalistische Aufschriften. Am Ortseingang biegt nach links, dem Gebirge zu, eine elektrifizierte Eisenbahnlinie mit leicht verrosteten Schienen ab, die alte Hauptlinie von Zagreb nach Split. Dabei führt ein Teilstück bei Bihac über bosnisches Gebiet und liegt seit dem Kriegsbeginn unbenutzt.

Auf den ersten Eindruck sieht Knin wie früher aus, über der Stadt liegt auf einem Bergrücken ausladend die Burg mit einer riesigen kroatischen Flagge darüber. Doch der Eindruck täuscht. Von den gut zehntausend Einwohnern leben nur noch 8oo in der verlassenen Stadt – noch will niemand freiwillig zurückkehren. Mit der Stationierung von großen Armee-Einheiten plant die Regierung wieder Leben in die Stadt bringen, erklärt mir ein Mitreisender, während der Zug aus dem Bahnhof ohne großen Zugverkehr rollt. Noch eine Brücke über die Krka, deren Sand am Flussgrund golden aufschimmert, der Zug nimmt wieder Fahrt auf und bringt uns durch eine Landschaft mit dichter Besiedelung. Rege Bautätigkeit neben noch verlassenen, zerschossenen Häusern. Fast immer stehen die Außenmauern und Ansätze des Dachstuhls, das Innere ist völlig zerstört und ausgebrannt. Ob es Kampfhandlungen oder Racheakte ethnischer Ursache waren? Es bleibt vieles unklar.
Auch vom Frontverlauf fehlt für den Fremden jede Spur, obwohl dieser über zwei Jahre durch diese Gegend ging.

Die Melodien der Musikgruppe klingen inzwischen immer schräger und der Ober geleitet die Abgekämpften sachte zu ihrem Abteil zurück. Langsam umfängt sie der wohlverdiente Schlaf und der Zug rumpelt durch die karge weiß-grüne Karstlandschaft, an steilen Abgründen des letzten Gebirgsriegels entlang, der Adria zu. In milchigem Blau schimmert das Meer aus hellgrauen Wolkenschleiern, dann schieben sich die bizarren Umrisse der Vorstädte Splits in Gestalt von Betonburgen aus dem zerklüfteten Küstengebirge. Noch einen Moment lang verdunkeln die Fabriken am Hafen sowie der Tunnel unter der Stadt die Sicht – und doch sind wir am Ziel: Split, ein Sackbahnhof direkt am Meer.

Zimmervermieter umringen die Passagiere. Die einen stapfen an Cafés und Fernbussen vorbei durch staubige Baustellen den Inselfähren zu, die anderen tauchen in diese Stadt mit Vergangengenheit ein, die sich mit ihrer stoischen Gelassenheit, den Promenaden abends unter den Palmen, in unmittelbarer Nähe zum Meer und dem weißen Gemäuer des Diokletianspalastes im Rücken schmückt. Verliert hier die Gegenwart von ihrem Schrecken?

Wie anders war doch die Stimmung in Ogulin gewesen: Die Menschen dort verhielten sich abweisend und versteckten sich. Nur Mirko, Zeljko und Jadranko, die in ihrem Heimatort keine Perspektive sahen, überhaupt sich ihre Zukunft düster ausmalten, hatten für den Fremden Interesse - und sei es nur, um ihre Englischkenntnisse ein wenig auszuprobieren. Über drei Stunden dauerte dort diese eigenwillige Stadtführung, wobei immer einer von ihnen in einem Hauseingang verschwand, um nach Transportmöglichkeiten oder Unterkunft für mich zu fragen. Endlich ein einfaches gutes Restaurant voller Arbeiter. “Für uns ist das hier viel zu teuer“, sagten die Drei wie aus einem Munde, “wie die meisten Leute gehen wir nicht mehr ins Gasthaus. Nur die Arbeiter aus dem Nachbarort könne sich diesen Luxus leisten.“

Als die Dämmerung das Städtchen in samtige Dunkelheit hüllt, liefern sie mich auf meinen Wunsch bei der Polizeistation ab, wo wir uns verabschieden.                                                      
Polizei als Hilfe? Vor gut zehn Jahren hatte sie uns in Knin Unterkunft in einem Hotel verschafft, das uns mit äußerst unfreundlichen Angestellten im Empfang abgewiesen hatte. Warum also nicht hier?
In der Wache erst einmal Stirnrunzeln über den späten Gast, was bald in Herzlichkeit umschlägt. Einer der Anwesenden erklärt sich in perfektem Deutsch sofort bereit, mich ins zwölf Kilometer entfernte Hotel, dem einzig funktionierenden im ganzen Kreis, zu fahren. Doch, wie sein Kollege schnell telefonisch herausfindet, ist es bereits mit Einheimischen aus zerstörten Häusern belegt.
“Es ist die Mentalität der Leute hier“, erzählte mir der junge Cafébesitzer später, bei dem ich meinen Schlaftrunk nehme, “selbst wenn man sie gut bezahlt, hätten sie kein Interesse daran. Jeder kümmert sich nur noch um sich und, seit dem Krieg, ist das noch viel schlimmer geworden. So ist das eben auf dem Balkan.“ Er senkte den Kopf, ließ meine Einwände nicht gelten und drehte sein Tablett verlegen in seinen Händen, nachdem er noch vergeblich für mich in der Stadt herumtelefoniert hatte. “Ich war in diesem Krieg und bin froh, daß er vorbei ist. Die Regierungen tun alles, um die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.“
Mit den besten Wünschen des Wirtes versehen, stolpere ich hinaus in die menschenleere, stockdunkle Nacht zu meinem Bahnhofsbett, auf einer der Bänke. Der dort diensthabende Polizist ist von meinem Kommen bereits informiert und kontrolliert die Ausweise der anwesenden Nachtschwärmer. Beruhigt falle ich in einen traumlosen Schlaf und schrecke erst hoch, als eine fremde Gestalt längere Zeit regungslos - direkt neben meinem Kopf verharrt.

Stephan Drube (1996)